Wir haben bewusste und unbewusste Erwartungen an uns und andere, und folglich auch an die Kinder. Diese zeigen sich durch Äußerungen wie: „Sei doch mal lieb“, „Hör mir zu“ oder auch „Deswegen musst du doch nicht weinen“. Die Erwartungen können auf unseren eigenen Kindheitserfahrungen beruhen, als Glaubenssätze gespeichert worden sein oder auch von anderen übernommen worden sein. Dabei agiert ein Kind nicht gegen uns – auch wenn wir das häufig so interpretieren – sondern für sich und hat für sein Verhalten immer einen guten Grund. Diesen aufzuspüren, scheint besonders dann schwierig, wenn das Kind sich völlig anders verhält, als wir es von ihm erwarten. Wenn es sich weigert, etwas zu tun, um das wir es gebeten haben, wenn es schreit und auf unsere Ansprache nicht reagiert oder wenn es anderen Kindern Spielzeug wegnimmt und uns frech die Zunge herausstreckt. Welche Botschaft steckt hinter diesem Verhalten?
Armin Krenz spricht davon, dass eine Verhaltensauffälligkeit der Versuch des Kindes ist, ein Problem zu lösen (vgl. Krenz, 2013, S. 53). Ein Kind, das sich nach Aufmerksamkeit sehnt, diese aber von der Fachkraft nicht erhält, wird sich etwas einfallen lassen, um sein Bedürfnis erfüllt zu bekommen. Indem Vincent also Alice die Puppe entreißt oder sie aus dem Kartonhaus schubst, erreicht er, dass sich die Fachkraft ihm zuwendet. Allerdings reagieren wir in diesen Momenten anders, als sich das Kind es erhofft, denn es erfährt dafür keine Zustimmung oder Verständnis, sondern im Gegenteil, es wird gemaßregelt und nicht selten für sein Verhalten bestraft.
Ich erinnere mich an ein Kind, das gerade aus der Krippen- in die Kita-Gruppe gewechselt war und regelmäßig vor der Tür saß, während die anderen Kinder am Morgenkreis teilnahmen. Warum? Weil es beim Abfragen der Jahreszeit keine Antwort gab. Auf die Fachkräfte wirkte das wie ein Affront und es war klar, dass das Verhalten nicht toleriert werden konnte. Also wurde das Kind vor die Tür gesetzt. Manchmal saß es dort vor sich hinträumend und Geschichten erzählend, manchmal laut weinend, aufgelöst und verzweifelt. Doch die Tür zum Gruppenraum war geschlossen und die für das Kind so wichtigen Bezugspersonen bekamen das nicht mit. Die Erwartung der Kolleginnen war, dass sich das Kind an den Ablauf anpassen sollte und dazu gehörte ihrer Meinung nach, Datum und Jahreszeit nicht nur kennen, sondern auch nennen zu können. Das war für die Fachkräfte so selbstverständlich, dass sie ihr Verhalten nie hinterfragten, aber von dem Kind eine Verhaltensänderung erwarteten. Wenn sich die beiden Kolleginnen nun auf die Suche nach dem guten Grund machen würden, würden sie entdecken, dass das Kind noch kein Interesse daran hat, Datum oder Jahreszeit zu kennen, dass es sich im Morgenkreis langweilt und irgendwann nicht mehr zuhört oder dass es sich so sehr darauf konzentriert, nicht zu stören, dass es gar nicht hören kann, was gerade erzählt oder abgefragt wird. Vielleicht passt eine dieser Erklärungen, vielleicht ist es aber auch eine ganz andere. Das werden wir nie erfahren, weil sich niemand auf die Suche nach dem guten Grund machte. Wie anders wären der Ablauf und die Erinnerungen, die das Kind an seine Kita-Zeit bildet, wenn es so hätte sein dürfen, wie es ist, und wenn es gar nicht wichtig wäre, Datum oder Jahreszeit zu kennen, weil es wichtiger wäre, gerne am Morgenkreis teilzunehmen, weil er Spaß macht? Welche Eindrücke hätten sich bei dem Kind eingeprägt und von welchen Erlebnissen würde es später berichten? Welche Erwartungen (und Glaubenssätze) wird es wohl daraus entwickeln und weitergeben?
Es gibt unzählige Augenblicke im Kita-Alltag, die für Fachkräfte belanglos erscheinen, aber für Kinder bleibende Eindrücke schaffen. Wir haben immer wieder die Möglichkeit, anzuhalten, innezuhalten und uns genau das zu fragen:
Ein Kind so zu nehmen, wie es ist, bedeutet auch, es so zu sehen, wie es ist. Dabei hilft es, sich von einem rein defizitären Blick zu lösen und ein Gesamtbild zuzulassen - oder wie Anja Cantzler schreibt: Schätze zu finden (vgl. Cantzler, 2023).
Sich für Kinder begeistern
Kinder erfahren von ihren Eltern, wie es sich anfühlt, geliebt, gesehen und unterstützt zu werden. Wenn sie viel Zeit in einer Einrichtung verbringen, ist es umso bedeutsamer, Kindern dieses Gefühl auch dort zu vermitteln. Wir haben uns angewöhnt, Distanz zu wahren und Eltern nicht in ihrer Rolle zu verletzen. Diese Distanz kann allerdings auch dazu führen, dass wir Kindern nicht zeigen, wie wertvoll sie sind. Es scheint, als hätten wir verlernt, sie zu schätzen und uns für sie zu begeistern, mit ihnen zu lachen und gemeinsam Spaß zu haben. Ich habe den Alltag oft als sehr ernst erlebt, sowohl in der Eingewöhnung als auch in den Entwicklungsgesprächen mit den Eltern und ihrer Beteiligung („Nein, wenn sie den Ausflug begleiten, sehen sie ja, wie wir mit ihren Kindern umgehen“). Es hat sich dann so eingespielt, dass die Bereiche Familie und Kita strikt voneinander getrennt werden. Dabei sind die Eltern darauf angewiesen und müssen darauf vertrauen, dass es ihren Kindern in der Kita gut geht. Es liegt ihnen viel daran, dass ihre Kinder liebevolle Unterstützung erfahren. Das ist möglich, ohne in Konkurrenzdenken zu verfallen („Mira ist lieber bei mir als bei ihrer Mutter.“/„Mag meine Tochter ihre Bezugsperson in der Kita mehr als mich?“).
Wenn wir uns als Erwachsene etwas von der kindlichen Neugier, Freude und Begeisterung bewahren – oder uns davon anstecken lassen, fällt es uns selbst wesentlich leichter, die Welt der Kinder zu verstehen. Wir können ihnen zuhören, uns auf sie einlassen und sie bei ihren bunten Abenteuern unterstützen.
Zeit, um die Welt zu entdecken
Das Gefühl der Zeit ist für Kinder anders. Während Erwachsene bereits den nächsten Punkt der Tagesordnung im Blick haben und eher auf die Zukunft ausgerichtet sind, nehmen Kinder bewusst den gegenwärtigen Augenblick wahr. Ganz in ihr Tun versunken, im Flow, vergessen sie alles um sich herum und fühlen sich in dem für sie richtigem Maße ausgelastet. Sie sind weder über- noch unterfordert. Sie beschäftigen sich mit etwas, das sie interessiert und sie völlig vereinnahmt. Deshalb kann ein Herausreißen aus dieser Welt bedeuten, dass Kinder ungehalten, frustriert oder auch aggressiv reagieren. Ihr Flow wurde gestört. Das würde uns doch ähnlich gehen, oder?
Kinder die Welt entdecken zu lassen, bedeutet, ihnen die Zeit dafür zu geben. Das ist für ihre psychische und physische Entwicklung enorm wichtig. Sie erleben sich in ihrem Tun als selbstwirksam, entwickeln ihr Selbstbild, stärken ihr Selbstbewusstsein und erfahren sich in ihrer Einzigartigkeit. Sie erleben Grenzen, stellen sich Herausforderungen und finden (gemeinsam) Lösungen. Diese Kreativität werden sie ihr Leben lang brauchen.
Quellen
Krenz, A. (2013): Kinderseelen verstehen. Verhaltensauffällikgieten und ihre Hintergründe. München: Kösel.
Cantzler, A. (2023): Schätze finden statt Fehler suchen. Herausforderndes Verhalten verstehen in Kita, Krippe und Kindertagespflege. Freiburg: Herder.
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